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“Lebwohl, du mein Stern…”

Sven Stäcker und Bettina Gmoser vor der read!!ing room Bücherwand

Ein Mann (Sven Stäcker) und eine Frau (Bettina Gmoser) sitzen sich gegenüber. Es ist dunkel, um nicht zu sagen: stockfinster. Man hört nur ein leichtes Papierrascheln. Ein Räuspern im Publikum. Eine Taschenlampe blitzt auf – man hört eine klare Frauenstimme, die in den schönsten Bildern zu ihrem offenbar weit entfernten Geliebten spricht und diesem nur das Beste auf der Welt wünscht. Das Aufflackern des Lichtes ist genauso kurz und intensiv wie die wohl gesetzten Worte des ersten Briefes. Dann wieder Dunkelheit. Man spürt eine gewisse Spannung. Die Aufmerksamkeit ist fokussiert. Die Sinne warten auf den nächsten Impuls. Erneutes Aufblitzen einer LED-Taschenlampe. Die männliche Stimme antwortet ebenfalls mit einem Brief.

Mittelalterliche / Renaissancebriefe

Sven Stäcker und Bettina Gmoser setzten in ihrer Lesung von spätmittelalterlichen Liebesbriefen mit dem wunderbaren Titel: “Ach, wärst Du doch bei mir…”  einen bewussten Kontrapunkt zum digitalen Stenogeschreibsel des 21. Jahrhunderts. Sie bewiesen, dass in Zeiten sexueller Abgeklärtheit und von Internet-Partnerbörsen kunstvolle Worte der Liebe eine Rarität, wenn nicht gar eine Kuriosität, sind. Das sprichwörtliche Werben, der hingebungsvoll schmachtende Ausdruck aus verzweifelter Entfernung, das Spiel aus Distanz, Nähe und Lust wurde getragen von einer Sprache, die heute nicht mehr zu finden ist. Wohlgeformte Worte ersetzten an diesem Abend die mittlerweile alltäglichen Liebesschwüre in Form von Emojis, bei denen wir nicht einmal eine Minute ruhig warten können, bis die Antwort auf unsere LiebesSMS oder LiebesWHATSAPP beantwortet wird. Kaum zu glauben, dass eine Fernbeziehung auch ohne Skype und festgesetzte Plauderzeiten im Netz funktionieren konnte…

Reduktion in der Inszenierung

Die Umsetzung der beiden Schauspieler/innen war genial. Durch die extrem reduzierte Inszenierung und den Einsatz von Taschenlampen wurde die sprachliche Intimität der Briefe betont. Spielend aktualisierten Stäcker/Gmoser den nur mehr wenig vertrauten Stil der elaborierten Schreiben mit kurzen Kommentaren, teils auch deftigen Bemerkungen, die keineswegs störten, sondern das Spiel der Worte noch deutlicher werden ließ.

Auch wenn der Ton und die Art des Vortrags ungewohnt waren, so wurde ganz schnell klar, dass die gebrauchten sprachlichen Bilder (Sonne, Mond, Sterne, Honig etc.) allgemein bekannt und zum Inventar jeder Liebesbezeugung, sei es nun in Form von Schlagermusik oder eigenen Gedichten, die an die Geliebte oder den Geliebten gerichtet sind, gehören. Bei genauerem Zuhören entpuppten sich die mittelalterlichen Briefe genau durch diese Metaphernfülle als verblüffend modern, teilweise spirituell und natürlich auch erotisch.

Nüchtern betrachtet, drängten sich zwei Beobachtungen auf: (1) Im Mittelalter / der Renaissance hatte man offensichtlich kaum eine Vorliebe für tierische Kosenamen. Kein Hasi, kein Kolibri, kein Spatzi… man nahm mit den Gestirnen, roten Rosen und weißen Lilien vorlieb und rief zur Verstärkung des Gesagten alle Götter im Himmel und auf dem Olymp an. (2) Hat man diese Briefe einmal gehört oder gelesen, scheint einem der Großteil der heute kommerziell aufbereiteten Liebestexte mit oder ohne Musik einfach nur platt und schnöde. Eine Zeile wie “Ich bin Dein Stern” verliert schnell an Charme…

Sven Stäcker und Bettina Gmoser nahmen das read!!ing room-Publikum auf eine geheimnisvolle Reise. Die Autor/innen der 117 wunderbaren Liebesbriefe, die auszugsweise vorgetragen wurden, sind leider unbekannt. Doch unverschämt zärtlich sind sie, die Briefe, von unverstellter Hingabe – und so allgemein gültig.

Veröffentlicht in Veranstaltungen

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