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Graffiti-Tour durch Wiens Norden: Von der Muthgasse zum Hubertusdamm

Wien hat sich in den letzten Jahren zu einem interessanten Hotspot für Street-Art und Graffiti in Europa entwickelt. Während der Donaukanal als eine Art „Hall of Fame“ der Szene dient und mittlerweile auch ein Tourismusmagnet darstellt, bietet auch der Norden der Stadt eine faszinierende Route für Graffiti-Enthusiast:innen und Kunstliebhaber:innen.

Historische Wurzeln: Von römischen Sgraffiti bis Josef Kyselak

Die Idee, Spuren der eigenen Existenz im öffentlichen Raum zu hinterlassen, ist weitaus älter als die moderne Graffiti-Bewegung. Bereits in der Antike praktizierten die Römer das „Sgraffito“ – eine Technik, bei der Namen, Botschaften oder Bilder in Putz oder Stein geritzt wurden. Diese frühen Formen des „Taggings“ sind historische Zeugnisse für den urmenschlichen Drang nach Verewigung im öffentlichen Raum. Auch die geritzten Inschriften von 1611 in einem der Türme des Stephansdoms zeugen von dieser jahrhundertealten Tradition.

Besonders bemerkenswert ist die Figur des Josef Kyselak, der bereits 1825 im Kaiserreich unterwegs war und auf Ruinen, in Höhlen und auf Mauern seinen Namen eingravierte – eine Praxis, die bis heute Spuren hinterlassen hat. Josef Kyselak gilt heute als eine Art Urvater des Taggings.

Style-Writing und Hip-Hop: Die moderne Graffiti-Bewegung

Spricht man heute von Graffiti, ist meist das „Style-Writing“ gemeint – das Schreiben geheimer Alter-Egos in möglichst bunter, spielerischer Weise an exponierten Stellen im öffentlichen Raum. Diese Kunstform entstand im Großraum New York Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, ungefähr gleichzeitig mit der Anfangsphase jener urbanen Subkultur, die später als Hip-Hop die ganze Welt beeinflussen sollte.

Kleines Lexikon der Graffiti-Begriffe

Bevor wir mit dem Rückblick auf die Tour beginnen, hier einige wichtige Begriffe der Graffiti-Szene:

Tag: Die einfachste Form des Graffiti – der schnell gesprühte oder geschriebene Name bzw. das Pseudonym einer/eines Künstler:in. Tags sind meist einfarbig und dienen der Markierung des Territoriums.

Piece: Kurz für „Masterpiece“ – ein aufwendig gestaltetes, meist mehrfarbiges Graffiti mit komplexen Buchstabenformen, Schatten und Effekten. Ein Piece benötigt deutlich mehr Zeit als ein Tag.

Mural: Ein großflächiges Wandbild, oft legal erstellt und künstlerisch hochwertig. Murals können abstrakt oder figurativ sein und sind meist Teil offizieller Street-Art-Projekte.

Throw-up: Ein schnell gesprühtes, meist zweifarbiges Graffiti, das größer als ein Tag, aber einfacher als ein Piece ist. Oft bestehend aus einer Outline (Umriss) und einer Füllung.

Wildstyle: Ein besonders komplexer Graffiti-Stil mit ineinander verschlungenen, schwer lesbaren Buchstaben, vielen Pfeilen und Verbindungen.

Bombing: Das schnelle und häufige Anbringen von Tags oder Throw-ups, meist illegal und mit dem Ziel, möglichst viel Präsenz zu zeigen.

Writer: Bezeichnung für Graffiti-Künstler:innen, die sich dem Style-Writing widmen.

Crew: Eine Gruppe von Writer:innen, die zusammenarbeiten und oft gemeinsame Tags oder Kürzel verwenden.

Pochoir/Stencil: Eine Schablonentechnik, bei der vorgefertigte Schablonen verwendet werden, um schnell und präzise Bilder oder Texte zu sprühen. Ermöglicht die Reproduktion identischer Motive.

Startpunkt: Muthgasse (19. Bezirk)

Die Tour begann in der Muthgasse im 19. Bezirk, einem Gebiet, das von unserem Guide und Norbert Siegl (Wiener Graffitmuseum) als einem der ersten Hotspots der Szene in der Frühzeit vorgestellt wurde. Gerade das Gelände um den Bahnhof Heiligenstadt, war noch vor gut zwanzig Jahren eine „Gestätten“ und die Möglichkeit Tags anzubringen und den einen oder anderen Zug zu besprayen, war natürlich verlockend.

Allerdings muss man schon ein gutes Stück zur „Lände“ gehen um die ersten, alten Pieces zu sehen, da das Gebiet rund um die Muthgasse mit neuen Glasbauten versehen ist, die natürlich kaum einen Anreiz für Graffitis bieten. Dadurch sind natürlich zahlreiche alte Arbeiten verschwunden. Überhaupt ist die Vergänglichkeit eines der Merkmale der urbanen Kunst. Arbeiten werden von übermalt (durch einfache Wandfarbe oder durch andere Graffiti), Wände werden weggerissen oder neu verputzt etc.)

Natürlich können Graffitis speziell in Wohngegenden ein Indikator dafür sein, ob eine lebedige Jugend- und Subkultur vorhanden ist. Wenn Graffitis dann zusehends verschinden, kann dies ein Hinweis für Gentrifizierung sein. Die Muthgasse wäre ein solches Beispiel.

Das Wienerwand-Projekt: Legale Kunst im öffentlichen Raum

Die Stadt Wien wusste in den 70ern und 80ern nicht recht, wie man mit den Tags, Pieces und Bombings umgehen soll. Schlussendlich fand sich eine Lösung: das „Wienerwand“-Projekt, die einerseits belegt, dass Graffitis gekommen waren um zu bleiben, andereseits auch auf eine gewisse Akzeptanz hindeutet.

Seit 2005 stellt die Stadt Wien unter der Organisation der Magistratsabteilung legale Flächen im öffentlichen Raum zur Verfügung. Dieses Jugendkulturprojekt schafft einen nicht-kriminalisierten Rahmen für Graffiti und wurde international als Vorbild gelobt.

Taubenplakette Wienerwand Karlsplatz, Juni 2021, Foto: Stefan Wogrin/Spraycity

Erkennbar sind diese 22 stadtweit verteilten legalen Wände an einer charakteristischen Reliefplatte mit einer stilisierten Taube und dem Schriftzug „WIENERWAND“. Die Künstler:innen bringen ihr Material selbst mit und müssen ihre Plätze sauber hinterlassen, während die Stadt nicht den Bestand der Werke garantiert – Übermalungen sind jederzeit möglich – und führen auch dazu, dass die Plaketten kaum mehr zu erkennen sind.

Zurück zur Tour

Die Route von der Muthgasse, über die Brigittenauer Lände und die Donauinsel in Richtung Hubertusdamm zeigt etliche Entwicklungen der Graffiti-Szene und stellt eine Art Freiluft-Galerie dar, an der man Tags, Pochoirs, Pieces und Murals finden kann (siehe Bilder). Unterwegs können Besucher:innen die charakteristischen mehrschichtigen Farbaufträge bewundern, die Wände, Geländer und Bögen schmücken – Werke, die, wie bereits betont, von einer Vergänglichkeit geprägt sind. Natürlich wimmeln die Brücken von zahlreichen Tags, die für viele als Schmierereien gelten, die aber ein Ausdruck einer lebendigen Szene und vor allem einer lebendigen, modernen Stadt sind.

Die Route zeigt auch die unterschiedlichen Techniken, die sich über die Jahrzehnte entwickelten. Eine Zeit lang wurden Etiketten mit den Tags und Schriftzügen hergestellt. Somit konnten die Tags schneller und unauffälliger Verbreitung finden – denn vor allem das Taggen hat ja auch eine kompetitive Note geht es darum den selbst gewählten Namen möglichst häufig in der Stadt zu verbreiten. Diese Technik verlor sich wieder oder wurde – nicht zuletzt durch billige Herstellungsmöglichkeiten – von kommerziellen Stickern verdrängt.

Neuerdings finden sich auch Arbeiten, die von den klassischen Pieces und Namensschriftzügen abweichen. Diese Arbeiten sind oft mit Instagramadressen signiert. Das Graffito, das lokal auf einem versteckten und etwas unzugänglichen Brückenpfeiler zu finden ist, wird somit im digitalen Raum präsentiert.

Wienerwand Nordbrücke

Eine der größten „Wiener Wände“ befindet sich unterhalb der Nordbrücke. Hier zeigt die Szene eindrucksvoll was alles möglich ist. „Man darf ja nicht vergessen, dass diese Künstler*innen das meistens alles machen, ohne Geld damit zu verdienen. So ein Piece ist ja auch ein irrsinniger Aufwand“, verwies Norbert Siegl auch auf eine besondere Seite von Street Art.

Gerade an der Nordbrücke sieht man aber auch, wie die Szene populärkulturelle Trends aufgreift. Derzeit feiern die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts eine gewisse popkulturelle Renaissance. Zahlreiche Remakes und Sequels von Filmen und Fernsehserien von damals werden produziert und heute meist per Stream verbreitet.

Ein Beleg dafür, dass dieser Trend auch in der Sprayer:innenszene angekommen ist, sind einige Arbeiten unterhalb der Nordbrücke, die Motive aus den Comicserien rund um die „Teenage Mutant Ninja Turtles“ aufgreifen, die ursprünglich von Kevin Eastman und Peter Laird geschaffen wurden.

Fazit der Tour

Die Route von der Muthgasse zum Hubertusdamm bot einen authentischen Einblick in die vielfältige Graffiti-Szene Wiens. Diese Tour ist natürlich in erster Linie für Graffiti-Fans interessant, da sie die ganze Breite der Ausdrucksmöglichkeiten der Szene zeigt. Menschen, die lediglich auf aufwändige Murals stehen und das Tagging und Writing für Schmierereien halten, sollten eher die legalen Wiener Wände aufsuchen oder sich die Arbeiten des Calle Libre Festivals ansehen.


Weiterführende Links zum Thema Graffiti in Wien

https://spraycity.at

http://www.graffitimuseum.at/

https://www.callelibre.at

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